Wipfelpfade und Baumhaushotels, Kletterparks und Pilzseminare – zu Tausenden zieht es die Menschen am Wochenende in den Wald. Woher kommt das neu erwachte Interesse am Leben unter Bäumen? Ein Report über den Sehnsuchtsort der Deutschen

Blätter rauschen, Äste knacken, Vögel zwitschern. Buchen und Eichen so weit das Auge blickt. Der Duft von Erde und Holz erfüllt die kühle Waldluft. Da durchbricht ein Schrei das Idyll: Auf einer Art Seilbahn saust ein Mädchen mit wehendem Haar durch die Luft und juchzt laut. Ein wenig weiter weg klettern zwei Kinder mit Sicherheitsgeschirr und Helm über Holzbohlen von Baum zu Baum; links hangelt sich ein Mann an Seilen von einer Krone zur anderen.

Darunter am Boden steht Telse Reimann und beobachtet das Treiben. „Im Wald zu klettern ist einfach etwas Besonderes“, sagt die Trainerin des Kletterparks Schnurstracks im Sachsenwald, dem größten zusammenhängenden Waldgebiet Schleswig-Holsteins. „Wenn es etwas windiger ist, wiegen sich die Bäume. Das spürt man dann auf den Baumplattformen.“

Hunderte Gruppen empfangen Reimann und ihre Kollegen jedes Jahr. Und die Besucher wollen nicht nur klettern: Sie hacken um die Wette Holz, laufen durch den Barfußpark, gehen mit dem iPad auf Schnitzeljagd oder spielen im Unterholz Crossgolf. Das geht natürlich auch anderswo. Aber: „Die Ruhe und die Luft bei uns sind ein besonderes Erlebnis“, sagt Reimann.

Auf der Suche nach Entspannung strömen die Deutschen in Scharen in die Wälder. Fernab von Handyläuten und Autoabgasen treffen sich Yogakurse auf Lichtungen, Mountainbiker preschen über Stock und Stein, Nordic-Walking-Gruppen rascheln durchs Laub, und mittendrin buddeln Kindergartengruppen. Das Freizeitangebot wächst ungebremst – teilweise über die Baumkronen hinaus.

Kilometerweit blickt das Auge aus dem „Adlerhorst“ über das grüne Blätterdach des Pfälzerwalds. 270 Meter führt ein mit Lehrtafeln und Spielelementen gespickter Holzsteg durch die Baumkronen bis zum vierzig Meter hohen Aussichtspunkt. 2003 eröffnete der erste Wipfelpfad Deutschlands. Mittlerweile gibt es hierzulande 15 der beliebten Stege, auf denen Besucher etwas über das Ökosystem Wald lernen und gleichzeitig ungewöhnliche Perspektiven genießen.

Nachts dem
Blätterrauschen
zuhören,
neben Eichhörnchen
und Eule einschlafen

 

Ein Spaziergang durch Baumkronen reicht wahren Waldliebhabern nicht. Einen Boom erleben auch Baumhaushotels. Nachts dem Blätterrauschen zuhören, neben Eichhörnchen und Eule einschlafen und morgens vom Vogelgezwitscher geweckt werden – die Übernachtung zwischen Ästen ist für viele ein Kindheitstraum. Ob die Hütte auf Stelzen steht wie im Naturerlebnispark Panarbora bei Köln oder direkt in einen Baum gezimmert ist wie Robins Nest im hessischen Witzenhausen, im Wald gruselt es sich nachts besonders naturnah.

Doch woher kommt diese Waldsehnsucht? Auch andere Nationen hegen eine enge Beziehung zum Wald, etwa die Russen. „Dass die Zuneigung Jahrhunderte überdauert, wie bei den Deutschen, ist jedoch etwas Besonderes“, sagt der Historiker Bernd Ulrich. Immer wieder wurde der Wald symbolisch neu aufgeladen: Märchen und Sagen dient er als urdeutsche Kulisse, Maler wie Caspar David Friedrich und Dichter wie Joseph von Eichendorff verklärten ihn zum Sehnsuchtsort. „Auf die Anfänge dieser Kulturgeschichte baut die Faszination Wald wieder auf“, sagt Ulrich.

Die Projektionsfläche ist groß: Ein Drittel der Bundesrepublik ist von Wald bedeckt. Ob in Privathand, Staats- oder Kommunalbesitz, jeder Forst steht zu Erholungszwecken offen. Und so suchen die Deutschen am Fuße der Bäume nach ihrem Stück vom Waldesglück: Fastenwandern im Thüringer Wald, ein Menü aus selbst gesammelten Waldfrüchten im Bayerischen Wald, Trüffelsuchseminare mit Hund im Schwarzwald – das Angebot ist so bunt wie die Blätter im Herbst. Dann brechen selbst Städter in Scharen mit Messer und Korb bewaffnet in den nächstgelegenen Wald auf, um Pilze zu sammeln. Bis zu fünfzig Teilnehmer zählt die Naturhistorische Gesellschaft Nürnberg bei ihren Pilzseminaren.

Auch der Schutz des Rohstofflieferanten avanciert zum beliebten Betätigungsfeld: Aktionsgruppen wie die Stiftung Echtwald kaufen Flurstücke und renaturieren sie, Städte wie Würselen finanzieren mit Baumpatenschaften einen „Bürgerwald“. Und die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald sorgt mit dem „Wälderhaus“ in Hamburg – einer Erlebnisausstellung samt Hotel und Restaurant – dafür, dass der Wald in der Großstadt nicht in Vergessenheit gerät.

Im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin nahe der polnischen Grenze lassen sich in der Saison jede Menge Steinpilze finden

Warum der Wald gerade heute so viele Menschen anzieht, weiß Philipp von und zu Guttenberg, Präsident der rund zwei Millionen privaten Waldbesitzer in Deutschland. „In Phasen starker Urbanisierung empfinden viele den Wald als Sehnsuchtsort, weil er für Ursprünglichkeit, Ruhe und Wildnis steht.“ 74 Prozent der Deutschen leben in der Stadt. Je schneller das Internet unser Leben mache, desto stärker sei der Wunsch nach Entschleunigung und Rückbesinnung. „Der Wald bedient das Bedürfnis, wieder in die Natur zu gehen und unserem Alltagsleben zu entfliehen“, sagt der Freiherr.

Und wer keine Zeit für den Waldausflug hat? Der forstet zu Hause auf: Selten waren rustikale Holzmöbel und Kamine so begehrt, in Zeitschriften wimmelt es von Dekotipps aus Rinde und Blattwerk. Oder er speist bei „Hans im Glück“: In den 18 Restaurants der Münchener Burgerkette werden die Gerichte in einem Hain aus deckenhohen Birkenstämmen serviert.

Das echte Waldgefühl gibt es jedoch nur draußen, unter Fichten und Buchen, auf verschlungenen Wegen und verwunschenen Lichtungen. Dort bewahrt der Wald das Geheimnis seines ewigen Erfolgs: Er hat 24 Stunden am Tag für alle geöffnet.

von Kathinka Dohms


Waldeslust

Von Stamm zu Stamm hangeln? Oder ein Picknick auf einer Lichtung genießen? Sechs Baumerlebnisse

Baumhaushotel: Eine Nacht in Wipfelhöhe können Waldliebhaber in ROBINS NEST im hessischen Witzenhausen erleben. An der Feuerstelle oder der Bar genießen Gäste die Natur, bevor sie sich in einem der drei Baumhäuser zur Ruhe legen (circa 200 Euro pro Nacht). www.robins-nest.de


Naturerlebnispark: Den mit 1,7 Kilometern längsten Baumwipfelpfad Deutschlands finden Ausflügler im neu eröffneten Naturerlebnispark PANARBORA in Waldbröl bei Köln. Dort können sie ganzjährig (außer montags) alles über das Ökosystem Wald lernen. www.panarbora.de


Kletterparcours: Bis zur Winterpause ab 1. November und dann wieder vom 21. März an bietet der Kletterpark SCHNURSTRACKS im Sachsenwald bei Hamburg viele Outdoor-Aktivitäten für Familien, Schulklassen und Firmen. www.schnurstracks-kletterparks.de


Gourmetwandern: Baiersbronn im Schwarzwald ist nicht nur die waldreichste Gemeinde Baden-Württembergs, hier finden Feinschmecker auch viele Sternerestaurants. Noch bis Ende Oktober werden WANDERUNGEN MIT PICKNICK im Wald angeboten. www.baiersbronn.de


Waldausstellung: In Hamburg-Wilhelmsburg widmet das WÄLDERHAUS dem Thema Wald und dessen Schutz ganzjährig eine große Ausstellung. Noch mehr Baumfeeling gibt es im angeschlossenen Hotel, wo man im Wacholder- oder Süntelbuchen-Zimmer schläft. www.waelderhaus.de


Weltnaturerbe: Wer wissen möchte, wie Deutschland aussah, bevor die moderne Forstwirtschaft unsere Wälder einhegte, besucht den NATIONALPARK HAINICH in Thüringen. Dort wachsen Buchenurwälder, die zum Unesco-Weltnaturerbe gehören. www.nationalpark-hainich.de