Die Hälfte aller Ehen wird geschieden, jede siebte Familie in Deutschland ist bereits eine Patchwork-Sippe. Die Tendenz ist stark steigend. Ein Erfahrungsbericht von Louise Lang.

Gerade habe ich meine kleine Tochter, meine Stieftochter und meinen Sohn bei meinem Exmann abgegeben. Er macht heute mit seiner Partnerin, deren Söhnen, dem gemeinsamen Baby, seinem Bruder (also meinem Exschwager), dessen Frau und deren beiden Kindern ein Grillfest. Die letzten beiden sind Cousin und Cousine meines Sohnes. Sie hüpfen derzeit mit meiner Tochter und meiner Stieftochter auf dem Trampolin herum, übernachten werden Cousin und Cousine später bei uns, bei mir, die ich nicht mehr ihre Tante bin. Wir sind nicht verwandt – und doch eine Familie. Kurz: Es ist kompliziert.

Wie fühlt es sich an, wenn man zwischen dem Exmann und Exschwager steht so wie früher, als wir noch alle denselben Namen trugen? Wenn man Menschen seit Jahrzehnten kennt, jede Marotte vertraut ist, und doch alles anders? Wir haben uns neu gemischt, haben neue Wohnungen, neue Möbel, andere Partner und Prioritäten. Es fühlt sich komisch an für die Erwachsenen – und völlig natürlich für die Kinder, die es nicht anders kennen. Sie fühlen sich wohl in diesem Patchwork-Konstrukt, meistens lieben sie es sogar nach einer  gewissen Eingewöhnungszeit, weil sie von mehr Menschen umsorgt werden als nur von Mama, Papa, Oma und Opa. Weil immer jemand da ist.

Wir leben jetzt in einer großen, bunten Horde. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter oder mein Vater je mitgekommen wären zu einem meiner Sportwettkämpfe. Bei Fußballturnieren meines Sohnes schauten vorige Woche vier Mitglieder der erweiterten Familie zu.

Zur Erklärung: Ich habe aus erster Ehe einen Sohn. Aus zweiter Ehe eine Tochter. Mein jetziger Mann brachte zwei Töchter mit in die Beziehung. Mein Exmann hat ebenfalls eine neue Partnerin, sie steuerte Zwillingsjungen bei, vor Kurzem haben sie noch ein gemeinsames Baby bekommen. Der Vater der Zwillinge ist gleichfalls neu liiert, und die Frau hat auch bereits ein Kind. Aber das führt jetzt vielleicht zu weit.

Die Exfrau meines Mannes ist ebenso neu gebunden, allerdings ohne weitere Kinder. Ehrlich gesagt bin ich darüber froh, irgendwann wird es unübersichtlich.

Meine Kinder haben gefühlt sechs Omas, zwei Opas, eine Uroma. Wir haben neulich mal nachgezählt, als die großen Töchter meines Mannes von ihrer Großmutter mütterlicherseits erzählten. Da fragte mein Sohn: „Bin ich mit Oma Lene eigentlich auch verwandt?“ Eine lustige Frage und gar nicht so schwer zu beantworten, oder? Er ist natürlich nicht im Mindesten mit ihr blutsverwandt oder auch nur verschwägert, womöglich nicht mal verschwippt, denn auch dieser putzige Begriff umschreibt aktuelle Beziehungsrelationen, keine vergangenen. Trotzdem bringt sie meinen beiden Kinder bei jedem Besuch selbstverständlich Geschenke mit. Weihnachten gleicht bei uns einer Geschenkeschlacht. Alle werden von jedem bedacht. Eine moderne Großfamilie.

Verbiege ich mich? Klar.
Schadet mir das? Kein bisschen

Oma Lene backt die Kuchen, wenn wir Konfirmation feiern oder Einschulung. Und sie würde, wenn ich sie fragte, jederzeit meine Kinder hüten, die nicht ihre Enkel sind. In diesem Sinne ist sie also natürlich Familie.

Oft werde ich gefragt, wie das geht. Trotz aller Verletzungen und Enttäuschungen, die sich nicht vermeiden lassen, wenn Menschen sich trennen. Manche schütteln den Kopf. Einer der Opas sagte mal bei einem Familienfest, seine Eltern würden sich im Grab herumdrehen, wenn Sie uns hier sehen könnten. Aber warum eigentlich? Es war ein schönes Fest, alle saßen an einem Tisch, 15 Personen bei Kaffee und Kuchen, alle lachten zusammen. Die Kinder waren glücklich und spielten. Alle sind gesund und froh.

Eine türkische Bekannte meinte nur: „Ich könnte das nicht.“ Ich glaube, sie täuscht sich. Sie könnte, wenn sie wollte. Aber natürlich ist das alles andere als einfach. Es gibt immer wieder Konflikte, alte, schlechte Muster,  sorgenvolle Nächte, Tränen, Streit. Welche Familie kennt das nicht? Aber es gibt eben auch jede Menge Kinder – und für die wollen Eltern immer das Beste. Deswegen reißt man sich zusammen, gibt nach, macht Kompromisse, nimmt sich und seine Erwartungen zurück. Es ist ein Prozess, es klappt nicht immer ohne Vorwürfe. Manchmal lächle ich, wenn mir nicht danach zumute ist, oder halte meinen Mund, obwohl es etwas zu sagen gäbe. Und sehr oft tue ich Dinge, die mir nicht passen. Aber für meine Kinder ist das gut so.  Verbiege ich mich? Ja klar, manchmal! Schadet mir oder der Familie das? Kein bisschen.

Schließlich sind wir Eltern alle schon mal gescheitert, haben die klassische Familie aufgelöst, gelitten,  geheult, geschrien – und unseren Kindern die heile Welt genommen. Sich von einer Liebe zu trennen ist wie sterben. Die Verantwortung dafür tragen wir ein Leben lang, dem müssen wir uns stellen bei jeder Diskussion um Ferien-und Wochenendaufenthalte, um Weihnachten, Elternabende, anfallende Kosten. Kürzlich wurde mein Sohn nach seinen Eltern gefragt. Er sagte: „Die sind getrennt. Die haben mal richtig Mist gebaut.“ Das soll uns nicht wieder passieren.

Als er sich bei seiner neuen Schule vorstellen musste, fragte ihn die Leiterin: „Hast du Geschwister?“ Er hielt kurz inne, schaute mich fragend an und sagte dann: „Ja, ich habe eine kleine Halbschwester, die nervt. Dann habe ich noch zwei große Stiefschwestern, die sind in der Pubertät. Vor drei Tagen kam auch noch mein Halbbruder auf die Welt, der ist sehr süß. Und dann gibt es noch die Zwillinge, zwei Jungs, die sind aber nicht halb, noch nicht mal stief. Passen die noch auf Ihr Formular?“


„Es ist in keiner Familie einfach“

Das sagt der dänische Familientherapeut
Jesper Juul. Der 67-Jährige hat zahlreiche Bestseller über Beziehungen und Erziehung geschrieben. Den Begriff „Stiefeltern“ hat er durch „Bonuseltern“ ersetzt – so lautet auch der Titel seines Standardwerks zum Thema Patchwork.
Vier Regeln des Experten.

 

Regel 1:  „Optimal für Kinder ist es, wenn die leiblichen Eltern anständig miteinander umgehen und der neue Partner nicht die Erzieherrolle übernimmt, sondern dem Kind ein guter Erwachsenenfreund wird. Zu einem anständigen Umgang gehören auch Emotionen wie Trauer und Wut. Das schadet niemandem.“

Regel 2:  „Ich glaube, es ist wichtig, dass man von Anfang an sogenannte Familienkonferenzen macht, bei denen jeder reihum sagen kann – ohne dass die anderen dies bewerten –, was ihm auf dem Herzen liegt. Jede Patchworkfamilie ist ein soziales Experiment. Da ist es gut, einmal im Monat zu wissen, wo die Familie mit diesem Experiment steht.“

Regel 3:  „In einer intakten Familie gibt es permanent größere und kleinere Konflikte. Je mehr man versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen, desto größer werden sie und schaden der Beziehung. Und je festgefahrener ein Konflikt ist, desto schwerer ist er zu lösen.“

Regel 4:  „Wir Erwachsenen tragen die Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu unseren Kindern.“