E-MAIL, SMS UND WHATSAPP verdrängen das handgeschriebene Wort und lassen unsere Schrift verkümmern. Warum es sich gerade deshalb lohnt, wieder zu Stift und Papier zu greifen
Schreiblehrerin Susanne Dorendorff verhilft ihren Schülern zu einem besseren Schriftbild.

Schreiblehrerin Susanne Dorendorff verhilft ihren Schülern zu einem besseren Schriftbild.

Vorsichtig durchsucht Susanne Dorendorff ihr schwarzes Federtäschchen. Stifte klackern aneinander, ein Essstäbchen wird nach oben befördert, eine Vogelfeder, eine Murmel. Dann hat sie das Gesuchte endlich gefunden: eine halbe Holzwäsche-klammer. „Ich liebe es, mit diesem Schaft zu schreiben“, sagt die 58-Jährige. „Man kann breite und dünne Linien ziehen, hin- und herkippeln, herumexperimentieren. Deshalb lasse ich meine Schüler als Erstes damit schreiben.“

Susanne Dorendorff ist die wohl bekannteste Handschrifttrainerin der Republik. Hunderten Deutschen hat die Hamburgerin bereits dabei geholfen, ihre Stiftführung zu verbessern. Sie hat Lehrbücher geschrieben, hält Vorträge und Seminare, bietet Tutorials im Internet an. Oft hat sie es mit Kindern zu tun, die damit kämpfen, leserlich zu schreiben. Doch vor allem die Zahl ihrer erwachsenen Schüler wächst rasant: Ob IT-Expertin oder Jurist, Regisseur oder Büroangestellte – immer mehr Menschen wollen ihre Sauklaue loswerden oder ihrer Unterschrift den letzten Schliff geben.
„Hier geht es nicht um Kalligrafie oder Schönschreiben“, stellt Dorendorff klar, „sondern um eine leserliche, ausdrucksstarke Handschrift. Und die steckt in uns allen drin.“

Sogar in dem Kunden, der sie im vorigen Sommer aufsuchte, weil er seine Verflossene mit einem Liebesbrief zurückgewinnen wollte, aber keine leserliche Zeile hinbekam. Oder in dem Geschäftsmann, dem seine Krakelschrift so peinlich war, dass ihm jedes Mal der Schweiß ausbrach, wenn er sich in einer Konferenz unter den Augen seines Sitznachbarn Notizen machen musste. „Viele gestandene Manager besitzen ein edles Schreibgerät, geraten aber in eine prekäre Situation, wenn sie aufgefordert werden, damit zu schreiben“, sagt Dorendorff. Nicht ohne Grund: Einige Firmen lassen sich bei Einstellungstests Schreibproben geben, um von einem Grafologen feststellen zu lassen, ob der Bewerber charakterlich zum Unternehmen passt.

Ob im Job oder privat – eine saubere Handschrift gehört wieder zur Etikette und gilt in Zeiten digitaler Kommunikation als Ausweis guten Stils. Nicht ohne Grund konnte der Notizbuchhersteller Moleskine seinen Umsatz seit 2009 mehr als verdoppeln; der Stiftproduzent Lamy baut derzeit seine Präsenz in Edelkaufhäusern mit eigenen Shops aus; Füllfederhalter von Montblanc oder Waterman sind weltweit gefragte Statussymbole. Doch woher rührt die wiederentdeckte Liebe zu Stift und Papier?

Ende der Neunzigerjahre galten SMS und E-Mail als hip. Wer sich elektronisch verständigte, statt die gute alte Briefpost zu bemühen, konnte sich der Bewunderung der Mitmenschen sicher sein. Der Effekt hat sich längst abgenutzt. Whatsapp, Facebook, Twitter: Ein kurzer Text mit einem Smiley zur Gefühlslage dahinter ist schnell getippt – und beim Absenden schon fast wieder alt.

Die Begeisterung über die Schnelligkeit der neuen Kommunikationsformen ist längst Ernüchterung gewichen. Alles und jedes wird in Sekundenschnelle verbreitet. Das E-Mail-Postfach der meisten Menschen ist chronisch verstopft, und beim Löschen verschwindet auch schon mal Persönliches im virtuellen Papierkorb.

Wer schreibt, der bleibt. Nicht nur beim <strong>Verfassen von Liebesbriefen </strong> zahlt sich eine individuelle – und vor allem leserliche – Handschrift aus.

Wer schreibt, der bleibt. Nicht nur beim Verfassen von Liebesbriefen zahlt sich eine individuelle – und vor allem leserliche – Handschrift aus.

Eine handgeschriebene Dankeskarte schmeißt dagegen niemand unbeachtet weg. „Ein schönes Papier auszuwählen und sich Zeit für einen ordentlich geschriebenen Brief zu nehmen zeugt von besonderer Mühe und Wertschätzung“, sagt Dorendorff. Und das werde von den Empfängern honoriert.

Auch Unternehmen setzen zunehmend auf die persönliche Note in ihren Geschäftsbeziehungen und lassen ihre Mitarbeiter zu Füller und Tinte greifen. So schickte das milliardenschwere US-Onlinereiseportal Airbnb seinen fleißigsten Wohnungsvermietern handgeschriebene Weihnachtskarten. Modehäuser wie Dior und Chanel engagieren für ihre Einladungen und Sitzkarten bei den Pariser Schauen sogar Kalligrafen wie den Pariser Nicolas Ouchenir. In wochenlanger Handarbeit beschreibt er dann Hunderte Karten, die den Gästen der Modelabels das Gefühl höchster Exklusivität geben sollen.

Dem festen Schriftbild, an das sich ein Kalligraf halten muss, fehlt allerdings etwas Essenzielles: „Ob Ärger, Freude oder Nervosität – Handschrift spiegelt immer die spontanen Emotionen des Verfassers im Moment des Schreibens wider“, sagt Schreibtrainerin Dorendorff. Diese Emotionen spüre auch der Empfänger.

Bei vielen Menschen löst die eigene Handschrift allerdings nur ein Gefühl aus: tiefe Frustration. Wer kann heutzutage noch längere Texte leserlich schreiben? Sprachmemos und das permanente Tippen auf Smartphone- und Computertastaturen haben die Handschrift einrosten lassen. Schon der Einkaufszettel ist oftmals völlig unleserlich, der Gedanke an einen Brief wird zur Qual.

Die Überwindung, zu Stift und Papier zu greifen, lohnt sich, denn das Schreiben mit der Hand trainiert unser Gehirn: „Es fördert die Erinnerung an geschriebene Inhalte und verbessert die Vorstellung davon, worüber man schreibt“, sagt Psychologe und Motorikexperte Christian Marquardt. Wer sich auf einem Block Notizen macht, bei dem bleibt ein Vortrag eher hängen als beim Nachbarn, der Stichpunkte in seinen Laptop hackt. Ein handgeschriebener Aufsatz dürfte origineller ausfallen als ein getippter, weil das Schreiben mit der Hand auch Hirnareale beansprucht, die für Kreativität und Fantasie zuständig sind, so Marquardt.

Die meisten von Dorendorffs Schülern haben regelrecht Angst vorm Schreiben. „Viele wurden schon wegen ihrer Schrift gemobbt, das geht tiefer als man denkt“, sagt die Expertin. Die Ursachen dafür liegen ihrer Ansicht nach oft in der frühesten Jugend: „In Deutschland wird schon seit über vierzig Jahren keine Schreibschrift mehr gelehrt“, kritisiert Dorendorff. Viele Schüler lernen die sogenannte vereinfachte Ausgangsschrift, die sich an der Druckschrift orientiert, deren einzelne Buchstaben aber schwer zu verbinden sind. Aus ihr sollen sie eine eigene Schnellschrift entwickeln – woran viele scheitern, wenn sie keine Anleitung bekommen.

Mit halbierten <strong>Wäscheklammern</strong> lässt sich eine harmonische, schwungvolle Schrift trainieren.

Mit halbierten Wäscheklammern lässt sich eine harmonische, schwungvolle Schrift trainieren.

Ohne schnelle Handschrift können Kinder bei Diktaten kaum mithalten oder müssen bei Aufsätzen ihren Gedankenfluss immer wieder unterbrechen, weil sie mit der Schrift kämpfen. „Grundschüler, denen ich die Schreibschrift beibringe, verbessern sich in manchen Fächern teilweise um zwei Noten“, sagt Dorendorff. Und auch bei Erwachsenen zeigten ihre Methoden schnell Erfolge. Schon nach zwei, drei Sitzungen und ein paar Stunden üben zu Hause sollte sich die Schrift eines Erwachsenen verbessert haben, sagt die Trainerin: „Es gibt keine hoffnungslosen Fälle.“

Falls der nächste Liebesbrief nicht warten kann, helfen professionelle Schönschreiber wie die Berliner Firma Schreibstatt, die persönliche Briefe, Postkarten oder Dankeskarten in verschiedenen Handschriften verfasst. Den schönen Schein des Selbstgeschriebenen halten Dienstleister wie das Start-up Pensaki aus der Nähe von Heidelberg oder die Berliner Schönschrift-Manufaktur aufrecht: Die Karten, die von dort in die Welt geschickt werden, sehen handgeschrieben aus – sind es aber nicht. Der Absender hat lediglich eine Probe seiner Handschrift, die von einem Computer eingelesen wurde, eingesandt – und den Wunschtext als elektronisches Dokument. Die Tinte aufs Papier bringen Roboter mit eingebauter Füllfeder – in beliebiger Auflage.

Die Vorteile von Handschrift und Digitalwelt vereinen Apps wie Penultimate, Papyrus und Write-Pad. Die Miniprogramme für den Tablet-Computer ermöglichen es, auf dem Display mit dem Stift Notizen zu machen, die sich anschließend elektronisch speichern lassen. Manche können Handschrift sogar in getippte Schrift umwandeln.

Der Stylograph des französischen Unternehmens Orée funktioniert sogar auf echtem Papier. Was der Nutzer analog auf den mitgelieferten Block aus edlem Steinpapier schreibt, überträgt der kupferfarbene Stift als digitale Notiz in eine App, in der sich der Inhalt speichern und wieder abrufen lässt.

Allerdings gilt auch hier: Die Handschrift muss so leserlich sein, dass der Computer sie erkennt.

von KATHINKA BURKHARDT


Acht Tipps für eine gute Handschrift

 

HEMMUNGEN ABBAUEN Mit einer auseinandergebrochenen Wäscheklammer und Tinte auf einem Stück Papier Schwünge einzuüben hilft dabei, ein Gefühl für die Stiftführung zu entwickeln.

KEINE ANGST Es geht beim Schreiben nicht um Kalligrafie. Jede Schrift ist individuell und ihre Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Ob links oder rechts gebeugt: Jede Handschrift ist gut – solange sie leserlich ist.

LANGSAM LOSLASSEN Nicht die Hand bestimmt die Schrift, sondern das Auge. Susanne Dorendorff rät: „Lassen Sie die Hand locker, sie wird Ihnen gehorchen, wenn Sie Ihren Augen vertrauen.“

MUT ZUR GRÖSSE Wer bewusst größer als gewohnt schreibt, tut sich leichter, Buchstaben Platz für eine richtige Form zu geben.

LEICHTIGKEIT SPÜREN „Versuchen Sie, mit zwei Essstäbchen eine Murmel auf einer Tischplatte festzuhalten“, empfiehlt Dorendorff. Das geht nur, wenn die Stäbchen ohne Druck zwischen Mittel-, Zeigefinger und Daumen liegen. Ein Stift wird danach ganz leicht in der Hand liegen und die Bewegung flüssiger sein. Je weniger Druck auf dem Stift ist, desto schneller kann geschrieben werden.

ÜBEN, ÜBEN, ÜBEN Es lohnt sich, bestimmte Buchstabenkombinationen immer wieder in Schreibschrift zu üben – zum Beispiel beim Fernsehen oder einer Zugfahrt. Vorlagen gibt es im Internet zum Beispiel unter www.europhi.de oder www.klett.de.

HIN ZUR EIGENEN NOTE Danach geht es an die eigene Schrift. „Schreiben Sie kurze Texte von wenigen Zeilen, die Sie auswendig können, am besten auf ein Blatt ohne Linien“, erklärt Dorendorff. Kommt man
richtig ins Schreiben, verkürzen sich Buchstabenformen individuell und es entsteht ein eigenes Schriftbild.

DER PERFEKTE STIFT Wer einen Füller oder Kugelschreiber kauft, sollte sich auf sein Gefühl verlassen. Der richtige Stift liegt sofort gut in der Hand und muss nicht „eingeschrieben“ werden.


Schreib-Must-haves

 

1 STYLOGRAPH Was der Stift der Firma Orée mit Tinte auf den Block schreibt, wird gleichzeitig in einer App notiert und kann verschickt oder gespeichert werden. Inklusive ledergebundenem DIN-A5-Buch um 400 Euro.

2 FÜLLER VON LAMY Ein Lieblingsstift zum Vererben ist das Modell Imperium in Schwarz und Gold für 350 Euro.

3 SCHREIBTISCHSET VON FABER-CASTELL Verschönert Büro und Home-Office: Brieföffner, Zettelbox, Stifthalter und sechs Guilloche-Bleistifte im Etui, 590 Euro.

4 MOLESKINE-BLOCK Den Klassiker für To-do-Listen, Beobachtungen, Geistesblitze und alles, was man sonst noch bewahren möchte, gibt es in vielen Farben und Designs ab 19,90 Euro.