Vom Apfelbalsam bis zur Zitronengrasessenz – der Wiener Erwin Gegenbauer erhebt Essig zur raffinierten Zutat. Besuch bei einem Geschmacksbesessenen, der an seinem Marktstand so einiges zu bieten hat
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Eine saure SPÄTLESE gefällig? Was Erwin Gegenbauer in seinen Fässern lagert, hat mit herkömmlichem Essig in etwa so viel zu tun wie Superbenzin mit Rohöl
Auf dem Wiener Naschmarkt hat Erwin Gegenbauer die besten Ideen. Jeden Samstag steht er auf dem größten Markt der Stadt, röstet seinen eigenen Kaffee, redet, verkauft und sucht nach Inspiration. Melonen, Spargel, Feigen, Gurken – beinahe jedes Obst, jedes Gemüse führt bei ihm zu einer Idee und dann zu einem neuen Essig. Siebzig Sorten hat der 55-Jährige im Angebot, vom Aroniabeeren- bis zum Zitronengras-Essig. Darüber hinaus verkauft er an seinem Stand als Digestif Trinkessige, die sieben Jahre in alten Fässern gereift sind, außerdem Öle, Honig, Craftbier. Und seinen Kaffee. Es ist immer viel los bei Gegenbauer, die Geschäfte laufen bestens. Man kennt und erkennt ihn: Mit seinen bunt gemusterten Hemden, den Siebzigerjahre-Anzügen und den langen Haaren ist er eine schillernde Figur weit über die Wiener Gourmetszene hinaus.
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Manche ESSENZEN reifen neun Jahre, bevor sie genießbar sind
Einmal fragte ein Koch Gegenbauer auf dem Naschmarkt, welchen Essig dieser für ein Gulasch empfehlen würde. Der Aromaexperte entwickelte prompt eine Essenz mit rotem Paprika. Er erfand auch den Apfelbalsam für Linsengerichte oder den Tomatenessig für die klassische Minestrone.
Am Naschmarkt nehmen die Produkte der Familie Gegenbauer ihren Anfang, hier entwickelte Erwin seinen Geschmack. Schon sein Großvater Ignaz, der „Sauerkräutler“, verkaufte hier im 6. Bezirk seine Ware, der Vater erfand den Ölpfefferoni, den es bis heute an vielen Wurstbuden der Stadt zu kaufen gibt.
Seit mehr als acht Jahrzehnten ist die Firma Gegenbauer vor Ort, in den 1920er-Jahren ging es um Sauerkraut, später auch um eingelegtes „Sauergemüse“ wie Essig- oder Senfgurken. Als Erwin 1992 den Familienbetrieb übernahm, war er jedoch nicht mehr rentabel, die industrielle Konkurrenz übermächtig.
Gegenbauer junior setzte aufs Handwerk: Aus der privaten Leidenschaft für Wein entstand ein Hobby und schließlich das Ziel, hochwertige Essige zu kredenzen. Essig ist eine der ältesten Spezereien der Welt – und Gegenbauer mittlerweile sein Pate. „Er ist für mich nicht allein ein Lebensmittel, sondern ein Teil von mir“, sagt der Produzent der sauren Würze. In seiner Manufaktur im 10. Bezirk können sich Interessierte seine Welt anschauen und, wenn sie mögen, sogar in Gästezimmern wohnen.
Die Gastronomiepresse nennt Gegenbauer „Essigpapst“, mittlerweile bestellen Restaurants von New York bis Tokio bei ihm. Spitzenköche wie Alain Ducasse und René Redzepi schwärmen von seinen Essenzen und stimmen ihre Menüs bis zum Dessert darauf ab. Zwei Drittel der Essige aus der Wiener Brauerei gehen nach Deutschland und in die Schweiz, nach Japan, Australien, China und in die USA.
Essig muss sauer sein?
Gegenbauer hält das für einen Irrtum
„Die Kunst ist es, das Aroma, das ich in der Natur vorfinde, sauer zu konservieren“, sagt Gegenbauer. „Die Natur schenkt uns unglaublich viele Aromen, aber wir haben verlernt, diese Vielfalt zu entdecken.“
Die Herstellung der Essige ist aufwendig: Zuerst werden gepresste Säfte zu Wein vergoren und ein Jahr lang gelagert, dann wird der Alkohol mithilfe von Bakterien zu Essigsäure fermentiert. Erst nach frühestens drei Jahren füllt Gegenbauer seine Schätze ab. „Ein guter Essig braucht viel Geduld und keine Zusätze“, sagt er. Sein Traubenessig für 32 Euro pro Viertelliter ist neun Jahre gereift. Die Essigkulturen sind das Geheimnis des Brauers. In der zweiten Gärung wird der Wein zu Essig, dabei verschwindet der Alkohol. Die Aromen bleiben übrig, und die sind Gegenbauers Kapital.
„Katakomben des guten Geschmacks“ nennt der Wiener seine Manufaktur im Haus der Familie von 1898, in dem er auch wohnt. „Hier bin ich aufgewachsen, hier ist mein Arbeits- und Lebensmittelpunkt.“ Im ersten Stock wohnt er mit Frau und Töchtern, unten entstehen die Essige. „Es ist wichtig, dass ich vor Ort bin, denn ich kontrolliere die Gärprozesse alle drei Stunden, auch nachts.“
Stolz präsentiert er sein Universum in dem unscheinbaren Gebäude: In der hintersten Ecke des Kellergewölbes schimmern auf alten Holzregalen dunkelrote, karamell- und honigfarbene Flüssigkeiten in Glasballons. Die Weinessige reifen in Holzfässern, die Balsamessige ebenfalls, allerdings unterm Dach der Manufaktur.
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Im Firmengebäude vermietet Gegenbauer fünf GÄSTEZIMER in spartanischem Designerlook, die Nacht inklusive Frühstück kostet 175 Euro
Im Winter ruht der Essig in den Fässern, im Sommer dehnt er sich durch die Wärme aus, verdampft Flüssigkeit und kommt so zur Reife. Aus den feinen Spalten der Fässer dringt dann balsamige Süße, die Wespen anlockt, erzählt Gegenbauer. Vor einigen Jahren hat er Bienenstöcke aufgestellt. Die Bienen vertreiben die Wespen, ernähren sich ebenfalls vom süßen Balsam und produzieren seinen beliebten Wiener Honig.
Gegenbauer liebt solche Kreisläufe. Bei der Herstellung seines Himbeeressigs etwa werden die Beeren gepresst, Trester bleibt übrig. Aus ihm presst Gegenbauer mit seinen acht Angestellten ein Himbeeröl. Die Abfallprodukte werden an die Hühner verfüttert, die auf der Terrasse vor seinen fünf Gästezimmern herumlaufen und deren Eier zum Frühstück serviert werden.
Gegenbauer ist kein Freund pompöser Verkostungen oder ausgefallener Flaschenkreationen. Er konzentriert sich auf die Qualität seiner Produkte und Rohstoffe. Er will mit seinen Aromen Köche inspirieren, die Küche verändern. Seine milden Essige kann man trinken, sie sind gesund und lecker. „Es ist ein großer Irrtum zu glauben, Essig müsse sauer sein“, sagt Gegenbauer. „Auf die Balance von süß und sauer kommt es an.“
Informationen und Shop: www.gegenbauer.at
Von ILSE FISCHER